Die österreichische Bundesregierung schnürt ein sogenanntes Pädagogik-Paket für das Schulsystem. Die Bildungsreform beinhaltet die Rückkehr zur Ziffernbenotung und des Sitzenbleibens in der Volksschule sowie der Leistungsgruppen in der Mittelschule.
Übergeordneter Zweck der über die nächsten Jahre umzusetzenden Reform ist, den Schulen mehr Autonomie zu gewähren und ihnen die Anpassung an das regionale Umfeld der Schulstandorte zu ermöglichen. Insgesamt soll die Qualität, die Transparenz und die Steuerung des Schulsystems verbessert werden.
Rückkehr zu Ziffernoten und zum „Sitzenbleiben“ in Volksschulen
In einer Pressekonferenz am Montag, den 01.10., kündigte der Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) an, dass an den Volksschulen ab Ende der zweiten Klasse verpflichtend Ziffernoten vergeben werden müssen, weiterhin gibt es die schriftliche Leistungsbeurteilung.
Bis zum ersten Schulhalbjahr der zweiten Klasse kann entweder mit Noten oder verbal beurteilt werden. Um die Notengebung transparent zu gestalten, gelten künftig Kriterien, die festlegen, was ein Kind in der jeweiligen Stufe für eine bestimmte Note können muss. Hierfür soll ein Bewertungsraster entwickelt werden, aus dem hervorgeht, welches Kompetenz- und Wissensprofil der Schüler/die Schülerin abbilden soll („Reime erkennen“, „elementarer Wortschatz“, „Informationsentnahme bei Gebrauchstexten“ usw.)
Zur stärkeren Kontrollierbarkeit der Leistung gehört demnach auch, dass alle Eltern zu Eltern-Schüler-Lehrer-Bewertungsgesprächen eingeladen werden, nicht nur jene, deren Kinder Probleme haben oder versetzungsgefährdet sind. Die Leistungsbeurteilung soll so für Eltern nachvollziehbarer und transparanter gestaltet werden. Zudem kann der Lehrer verpflichtend entscheiden, ob ein Kind bei Bedarf Förderunterricht erhält.
Auch das „Sitzenbleiben“ kehrt zurück. Hatte ein Kind – seit der geltenden Reform der sozialdemokratische Vorgängerregierung – für zwei Klassenstufen drei Jahre Zeit, so ist die Nichtversetzung wieder ab der dritten Klasse möglich.
Klassische Notenskala und Einführung von „Leistungsniveaus“ in der „Mittelschule“
Die Reformen betrifft auch die Neue Mittelschule, die zukünftig als leistungsorientierte Mittelschule einfach „Mittelschule“ heißt. So soll die bisherige „siebenteilige Notenskala“ durch die klassische „fünfteilige Notenskala“ („sehr gut“ bis „nicht genügend“) ersetzt werden. Vorgesehen ist auch die Einteilung der Schüler in zwei Leistungsgruppen bzw. „Leistungsniveaus“ in den Fächern Deutsch, Mathematik und in der ersten lebenden Fremdsprache.
Diese Leistungsniveaus in den Klassen fünf und sechs heißen „Standard“ und „Standard AHS (Allgemein bildende höhere Schule)„. So soll sichergestellt werden, dass Schüler je nach individueller Fähigkeit unterrichtet werden können und das Niveau der AHS auch in der Mittelschule errreicht wird. Hintergrund ist der massive Zulauf in die Allgemein bildende höhere Schule (Gymnasium) und der damit einhergehende Bedeutungsverlust der Mittelschule in Ballungszentren wie Wien.
An der Polytechnischen Schule, einer nach der Mittelschule anschließenden einjährigen allgemein bildenden Berufsvorbereitungsschule, wird ein freiwilliges 10. Schuljahr eingeführt. Dadurch haben die Schüler/innen Zeit ihre Berufsentscheidung zu revidieren und neu zu justieren. Einmal in Gesetztestexte gegossen, treten die Reformen mit dem Schuljahr 2019/2020 in Kraft.
Stimmen zum „Pädagogik-Paket“
Mit dem „Pädagogik-Paket“ ist das Leitprinzip der Schulreform benannt:
Fördern und Fordern und die Stärkung des Leistungsprinzips. Bildungspolitisch hebt sie ab auf eine individuellere und passgerechtere Leistungsbeurteilung. Die Bildungslaufbahn soll mit Mitteln effektiver Schulorganisation auf institutioneller wie unterrichtlicher Ebene präziser gesteuert und optimiert werden. Somit sollen die Übergänge von der Volkschule zur Sekundarstufe 1 und von dieser in weiterführende berufliche und universitäre Ausbildung einfacher und transparenter werden.
Bildungsminister Faßmann betont, die Bundesregierung wolle keinen „Bildungsrevanchismus“, also die Rückgewinnung der Bastionen konservativer Bildungspolitik mit einem stark auf Auslese nach sozialem Status gerichteten Schulsystem. Stattdessen, so der Bundeskanzler Sebastioan Kurz (ÖVP), möchte man ein „modernes Bildungssystem“ sicherstellen.
Stimmen aus der Wirtschaft begrüßen das Reformvorhaben. Die Generalsekretär-Stellvertreterin der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), Mariana Kühnel, lobt den leistungsbezogenen Ansatz. Mit ihm werde der „berufsbildende Gedanke“ gestärkt.
Dieser Schwerpunkt ermögliche es, die Schüler/innen für den Bildungsweg vorzubereiten. Kritik kommt hingegen aus der Österreichischen Hochschüler/innenschaft (ÖH). Johanna Zechmeister vom Vorsitzteam macht auf den Wert der sozialen Heterogenität für die Leistungen der Schüler aufmerksam. Da das Bildungsniveau in Österreich noch immer vererbt werde, müsse man dem schon in der Schule entgegentreten, bevor es an der Hochschule zu spät sei. Bildung müsse „als Gesamtkonzept gedacht werden“.
In der Tat weisen empirische Forschungergebnisse darauf hin, dass die Notenvergabe nicht nur von der möglichst objektiven Leistungsbeurteilung des Lehrers abhängt, sondern auch vom sozioökonomischen Status des Schülers. Zwar ist der Gedanke, dass Leistung über den Zugang zu Studium und Beruf entscheiden soll, prinzipiell gut und fair. Studien zeigen aber, dass bei gleicher Testleistung Kinder aus Arbeiterfamilien etwas seltener gute Noten bekamen als Kinder aus Akademikerfamilien.
Dadurch besteht die Gefahr, dass im Verein mit einer frühen Notenbeurteilung und dem Sitzenbleiben Kinder aus der „Armutszone“ von Kindern aus der „Reichtumszone“ getrennt werden. Erstere können den steigenden Notendruck nicht so gut durch ihr soziales Umfeld auffangen. Die psychisch-emotionalen Belastungen nähmen dadurch zu, so Schulpsychologen. Insofern spricht es Bände, dass im Zuge des Reformvorhabens der Begriff der Leistungsgerechtigkeit nicht erwähnt wird. Mit ihm wäre – trotz seiner Probleme in der faktischen Umsetzung – wenigstens ein progressives Bestreben angezeigt. Stattdessen beherrschen technokratische Vokabeln wie „Optimierung“, „Steuerung“ und „Schullaufbahn“ das Sprachfeld des Pädagogik-Pakets.